Artikel verfasst von Frank Joung

Aline Abboud ist in Ostberlin aufgewachsen. Ihr Vater kommt aus dem Libanon, ihre Mutter ist deutsch. Im Gespräch mit Frank erzählt die 30-Jährige, wie sie festgestellt hat, dass sie einen Migrationshintergrund hat, was das wahre libanesische Nationalgericht ist und von dem Moment, als aus Urlaub plötzlich Krieg wurde.

„Die schönste Zeit des Jahres“

Alines Vater verließ Anfang der 80er-Jahre seine libanesische Heimat. Er habe die Möglichkeit gehabt, in der DDR zu studieren, erzählt Aline. Im Libanon herrscht Bürgerkrieg. Ihr Vater stammt aus dem christlichen Teil des Landes.

1988 wird Aline geboren. Sie hat keine Geschwister, dafür aber viele Cousins und Cousinen – im Libanon. „Meine Ersatzgeschwister“, wie sie sagt. Bereits in Alines jungen Jahren fahren die Abbouds fast jede Sommerferien in den Libanon. Aline erinnert sich an Ananassaft aus dem Tetrapak, an gerolltes Fladenbrot und Hühner, die die Oma fürs Essen aus dem Stall zieht.

„Wir waren immer draußen. Ich bin froh, dass ich das erleben durfte – ganz ohne Handy.“ Die Wärme, das Meer, Kinder, die auf den Straßen herumwuseln – Aline erinnert sich gerne.

„Ich kann schon sagen, dass ich mit der libanesischen Kultur aufgewachsen bin, weil ich das von klein auf erlebt habe. Die Sommerferien waren immer die schönstes Zeit des Jahres.“

Migrationshintergrund? Ich?

Zuhause in Deutschland ist ihre Herkunft fast nie Thema. Sie wird eher als südeuropäisch wahrgenommen, Anfeindungen oder Diskriminierungen erlebt sie kaum. Eine Schlüsselsituation für Aline war die Begegnung mit einer deutschen Journalistin vor wenigen Jahren. Sie riet Aline, die in den Journalismus wollte, sich auf ein Stipendium zu bewerben – für „junge Menschen mit Migrationshintergrund. „Hä? Das bin ich doch gar nicht. Sie muss was falsch verstanden haben. Da gehöre ich doch nicht rein – so habe ich damals gedacht.“ Seitdem stellt sich Aline die Frage: „Wo fängt Migrationshintergrund an und wo hört er auf?“

„Ich wusste lange nicht, dass ich einen Migrationshintergrund habe.“

Aus Sommermärchen wird „Julikrieg“

2006. Sie verbringt wie immer die Ferien im Libanon, in der Nähe von Beirut, im Heimatdorf ihres Vaters. In Deutschland hat das „Sommermärchen“ mit dem verlorenen Halbfinale gegen Italien ein jähes Ende gefunden, da beginnt im Libanon das, was später als „Julikrieg“ bekannt werden sollte. Israelische Truppen bekämpfen die Hisbollah in der Hauptstadt Beirut. Aline bekommt erst davon mit, als sie mit ihrer Großmutter aus Deutschland telefoniert.

„Wir saßen am Strand als meine Oma anrief und sagte: Bei euch ist Krieg. Ich dachte: Hä? Wie, wo denn? Und dann waren wir mittendrin. Es war verrückt.“

Aline sieht Rauchwolken über Beirut aufsteigen, sie sieht und hört Bomben fallen. Die Situation eskaliert. Schnell wird Aline und ihrer Familie klar, dass die Lage ernst ist. Sie bekommt es aber nicht zu fassen.

„Plötzlich war alles so real. Ich habe immer nur gedacht: Wir sind im Krieg – das kann nicht euer Ernst sein. Krieg kennt man doch nur aus dem Fernsehen, aus Filmen oder Büchern. Krieg war doch immer woanders.“

„Ich musste meine Familie im Stich lassen“

Als sie zu einem späteren Zeitpunkt eine E-Mail schreiben will, schlagen zwei Bomben in dem Dorf ein. Das Haus erfährt eine starke Erschütterung, eine Cousine kriecht unters Sofa – lachend. Eine Übersprunghandlung. „Diese eine Bombenerfahrung hat gereicht fürs Leben. Das vergisst man nicht. Seitdem habe ich eine anderes Gefühl zu Menschen, die vor so etwas flüchten.“

Aline und ihre Familie planen, das Land zu verlassen. Beirut war nicht mehr zugänglich, nach Hause fliegen nicht mehr möglich. Mit einem Konvoi würden die „Ausländer“ außer Land gebracht.

„Das Schlimmste war: Ich musste meine Familie im Stich lassen. Ich habe gemerkt: Ich bin Deutsche, ich habe das Privileg. Ich darf und kann hier raus, meine libanesische Familie nicht. Das war ein schlimmer Moment. Das hat mich am meisten traumatisiert.“

Die Flucht nach Deutschland dauert eine Woche. Sie ist gekennzeichnet von Chaos, planerischem Unvermögen und Todesangst. Die deutsche Botschaft tue sich nicht gerade durch große Hilfsbereitschaft und Kompetenz hervor, findet Aline.

Doch sie schaffen es nach etlichen Strapazen nach Hause nach Berlin. „Ich habe gedacht, ich küsse hier gleich den Boden“, sagt Aline. So groß ist die Erleichterung. „Du kommst aus einer anderen Welt. Hier ist alles normal, hier ist kein Krieg. Es ist komisch, aber das alltägliche Leben hat mich schnell eingeholt.“ Der Verdrängungsmechanismus setzt ein. Aline führt ihr „deutsches“ Leben fort. Sie weiß heute, dass es vielleicht besser gewesen wäre, sich mehr mit den traumatischen Erfahrungen auseinanderzusetzen.

Panikattacke im Bombensimulator

Die Ereignisse von damals haben sie erst kürzlich wieder eingeholt. In einem Bombensimulator in einem iranischen Museum bekommt sie ein Panikattacke.

„Ich hatte mir nichts dabei gedacht, aber plötzlich fing mein Körper an zu zittern, ich habe Herzrasen bekommen und ich fing an zu heulen. Und im Kopf dachte ich gleichzeitig: Was ist denn mit mir los? Es war ganz schizophren.“

Ein Grund, warum sie nach ihrem Arabistikstudium Journalistin werden wollte, ist die einseitige Berichterstattung der Medien. Sie will auch die andere Seite der arabischen Welt zeigen, nicht immer nur die negative. Derzeit arbeitet sie beim ZDF in der Nachrichtenredaktion von „heute“ und moderiert die Nachrichten „heute Xpress“.

Aline Abboud auf FacebookTwitter & Instagram

Halbe Katoffl ist ein kostenloses Angebot. Wenn ihr mich finanziell unterstützen wollt, könnt ihr das hier machen – oder direkt auf den Steady-Button klicken.