Artikel verfasst von Frank Joung
Diese Episode ist Teil der Serie „Sport-Edition“

Alhassane Baldé wurde 1985 in Guinea geboren. Er ist seit seiner Geburt querschnittsgelähmt. Im Halbe Katoffl Podcast spricht der 34-jährige Rennrollstuhlfahrer über seine anfängliche Angst vor weißen Frauen, Prügeleien in der Schule & sein spätes Treffen mit seinem Zwillingsbruder.

„Sie wussten nicht, was mit mir los ist“

Alhassane ist Profi-Rennrollstuhlfahrer und lebt in Bonn. Er und sein Bruder kommen 1985 als zweieiiges Zwillingspärchen in Conakry im westafrikanischen Staat Guinea auf die Welt. Alhassane ist der Zweitgeborene. Schon früh merken die Eltern, dass Alhassane sich nicht so gut entwickelt wie sein Bruder. Als er neun Monate alt ist, reisen sie mit ihm zum ersten Mal für eine ausführliche Diagnostik nach Deutschland, wo der Bruder seines Vaters studiert.

Die Ärzte attestieren dem Jungen eine Querschnittslähmung ab dem achten Brustwirbel. Die Eltern entscheiden, dass ihr Sohn unter besseren Entwicklungsbedingungen aufwachsen soll als das für ein behindertes Kind in Guinea möglich wäre. Mit fünf Jahren kommt Alhassane nach Deutschland.

„Hier bekam ich direkt einen Rollstuhl. Das kannte ich aus Guinea nicht, da bin ich über den Boden gerobbt.“

„Ich hatte Angst vor meiner Mutter“

Sein Onkel und seine Tante – er schwarz, sie weiß, damals selbst noch ein junges studentisches Pärchen – adoptieren ihn. Obgleich sie nicht seine biologischen Eltern sind, sind sie für Alhassane Mutter und Vater.

„Als meine Mutter mich zum ersten Mal auf den Arm nehmen wollte, habe ich geschrien und geweint und meinem Papa ins Ohr geflüstert: ‚Ich habe Angst vor diesen weißen Frauen!‘ Mein Vater hat sich kaputt gelacht und gesagt: ‚Tja, damit musst du jetzt umgehen.“

Alhassane wächst in Düsseldorf auf. Die ersten Jahre sind nicht einfach für den kleinen Jungen, der zu Beginn nur Französisch und die Sprache seines Stammes spricht – Pulaar/ Poular.

„Ich falle immer doppelt auf“

Schon im Kindergarten erlebt Alhassane, dass Kinder auch grausam sein können. Auch auf der Grundschule, eine reguläre Schule, fällt er als schwarzer Junge im Rollstuhl stets in doppelter Hinsicht auf – wobei er sich mehr wegen seiner körperlichen Behinderung benachteiligt fühlt als aufgrund seiner Hautfarbe.

„Ich war ein Typ, der sich beweisen wollte. Dem Jungen, der mich immer ausgrenzen wollte, bin ich einmal derbe in die Hacken gefahren. Er hat mich danach windelweich geprügelt, aber mir war wichtig zu zeigen: Du kannst nicht alles mit mir machen.“

Von der Reha-Messe zu den Paralympics

Alhassanes sportliches Talent zeichnet sich schon früh ab: „Als Kind habe ich viele Sportarten ausprobiert, die man mit oder ohne Rollstuhl machen kann – vor allem, was mit Speed, mit Adrenalin zu tun hat. Der Rennrollstuhlsport faszinierte mich am meisten.“

Die Eltern erkennen das große Talent ihres Adoptivkindes. Sie unterstützen und fördern den Jungen nach allen Kräften. Als sein sportliches Erweckungserlebnis beschreibt Alhassane den Besuch einer Reha-Messe mit seinen Eltern, als er fünf Jahre alt war. Dort entdeckte er einen Mini-Rennrollstuhl: Die Mannheimer Firma hatte ihn als „Messe-Gag“ gebaut.

Alhassane setzt sich hinein und fährt begeistert durch die Halle. Der Firmeninhaber, selbst Rollstuhlsportler, schenkt ihm den kleinen Renn-Rollstuhl zum 6. Geburtstag und wird später Alhassanes Trainer. Sie entwickeln einen Plan und Alhassane bereitet sich professionell auf eine Sport-Karriere vor.

„Ich war ein Außenseiter“

Während er in der Schule in der Pubertätszeit unter seiner Außenseiterrolle leidet, ist er zugleich als Leistungssportler unterwegs und kommt – viel früher als seine Mitschüler – in der Welt herum: „Es war für mich normal, dass ich mit 14 Jahren zum paralympischen Jugendlager nach Sydney fliege.“ So hat er eher vermisst, was er im Vergleich zu den Mitschülern nicht hat: die Katholische Jugendgemeinde, den Sommerurlaub auf Malle.

Da es in Deutschland noch keine entsprechende Konkurrenz gibt, nimmt Alhassane an der Junioren-Meisterschaften in den USA teil. Mit 18 Jahren qualifiziert er sich für die Paralympics in Athen und verpasst nur knapp das Finale.

„Das fand ich geil, in so einem fetten Stadion zu fahren, mit so vielen Zuschauern. Eine Medaille entgegenzunehmen, die Hymne zu hören und für sein Land zu starten.“

Gemischte Gefühle in Guinea

Scherzhaft bekommt er von der Familie aus Guinea manchmal die Frage gestellt, warum er nicht für Guinea starte. Das habe für ihn aber nie zur Debatte gestanden. „Ich habe ja hier alles durchlaufen und alle Unterstützung bekommen. (…) Ich fühle mich als Deutscher, aber mit guineischen Wurzeln.“

Die Familie hält den Kontakt nach Guinea und geht mit der Adoption von Alhassane von Anfang an offen um: „Ich wusste immer, was los ist. Das war nie ein Geheimnis. Dadurch, dass es in der Familie geblieben ist, ist es relativ unkompliziert gewesen.“

Nach seinem Umzug nach Deutschland ist Alhassane in großen Abständen noch einige Male in Guinea gewesen. Mitte der 90er Jahre besuchte er das Land mit der ganzen deutschen Familie. Da gab es auch schon seine beiden jüngeren Geschwister, einen Jungen und ein Mädchen – die leiblichen Kinder seiner Adoptiveltern. Die nächste Reise tritt er Jahre später alleine und mit ambivalenten Gefühlen an – und Angst, wie er in seinem Rollstuhl mit der schwachen Infrastruktur dort zurechtkommen würde.

Handicap und Privileg – immer beides

Er erlebt, für wie privilegiert ihn viele Menschen in Guinea halten, weil er in Deutschland lebt. Menschen mit körperlichen Einschränkungen beäugen neidisch seinen Rollstuhl. Besonders in Erinnerung blieb ihm die Abschiedssituation mit seinem Zwillingsbruder am Flughafen. „Ich wünschte, ich wäre du“, sagte sein Bruder ihm. Das habe ihn sehr berührt.

Einmal hat ihm sein Bruder auch in Deutschland besucht. „Wir waren beide mega aufgeregt. Obwohl wir so unterschiedlich aufgewachsen sind, haben wir einen direkten Draht zueinander.“

Der letzte Besuch in Guinea liegt nun schon einige Jahre zurück. „Meine Eltern fragen mich jedes Jahr, wann ich komme. Ich bin sehr gespannt, wie das wird, wenn ich das nächste Mal hinfliege.“

Weitere Themen: Selbstmitleid in der Pubertät, barrierefreies Reisen in Deutschland, unterschätzt werden und mit dem Zivi aufs Klo.

Mehr Infos zu Alhassane Baldé gibts auf seiner Website: www.alhassane-balde.com

Text: Simone Ahrberg-Joung

Die Serie “Halbe Katoffl Sport” ist entstanden in Kooperation mit „Integration durch Sport“, das dieses Jahr sein 30-jähriges Jubiläum feiert. Das Bundesprogramm wird vom Bundesinnenministerium und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert.

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