Idil Baydar wird 1975 als Kind türkischer Einwanderer in Celle geboren. Mit Frank spricht sie über Scham und Selbst-Sabotage, Karibik und Kreuzberg – und was ihre Mutter mit ihrer Kunstfigur Jilet Ayse zu tun hat.
Die Ehe von Idils Eltern zerbricht früh. Idil bleibt ein Einzelkind. Ihren Vater sieht sie lange Jahre nur in den Sommerferien und da ihre Mutter viel arbeitet, ist Idil meist auf sich allein gestellt.
Nachdem die Schneiderei der Mutter pleite gegangen war, beginnt diese eine Ausbildung zur Maskenbildnerin und reist viel. So kommt Idil mit zehn Jahren „aus der kompletten Anarchie“ auf ein Waldorf-Internat in der Lüneburger Heide. Die Jahre dort hat sie in sehr guter Erinnerung: „Das war die geilste Zeit. Ich habe ja keine Geschwister und dann hatte ich auf einmal ganz viele. Ich konnte mich da so austoben. Deutsche sind ja so geduldig.“
„Was mir in der Kindheit an Beziehung gefehlt hat, das habe ich im Waldorf-Internat ganz gut nachgeholt. Du kannst ja nicht entfliehen. Das macht eine sehr stabile Bindungssituation.“
„Kreuzberg – da gehöre ich hin“
Als Idil 15 ist, ziehen ihre Mutter und sie nach Berlin, da die Arbeitsmöglichkeiten für eine Maskenbildnerin hier weitaus besser sind als in Celle. Mit 17 zieht Idil von zu Hause aus. Von der Siemensstadt geht es nach Kreuzberg: „Ich wusste, da gehöre ich hin.“ Sie fühlt sich angezogen von der türkischen Community, weil ihr dieser Teil gefehlt hat.
„Ich bin groß geworden wie eine Kartoffel und meine Mutter hat auch von Anfang an Deutsch mit mir gesprochen. Ich musste erstmal lernen, eine Türkin zu sein.“
Obwohl ihr Berlin-Kreuzberg wie ein großes Abenteuer vorkommt und sie das Freiheitsgefühl dort genießt, erlebt sie nun viele Jahre der Halt- und Orientierungslosigkeit. Sie arbeitet schwarz – ohne es zu wissen – und probiert alles Mögliche aus; kann sich aber auf nichts festlegen.
„Die Jobs haben mich über Wasser gehalten, aber ich habe mich völlig lost gefühlt.“ 15 Jahre lang lebt Idil in großer Armut – eine schwere Zeit, in der sie im Rückblick jedoch viele wichtige Lektionen über das Leben gelernt hat.
„Du begreifst die psychische Grundlage von Armut und was das mit dir anstellt (..). Du willst dich ausprobieren, aber du fühlst dich wie in einem Käfig. Du kannst nichts machen, du hast kein Geld.“
Es sind „tiefe Tiefen“, die Idil in diesen Jahren durchlebt. Sie kifft viel und leidet an Depressionen: „Du hast mit vielen negativen Gefühlen zu kämpfen. Jeder sagt dir: Warum machst du nichts? Du könntest doch. Und du weißt auch: Du könntest. Aber irgendwie kannst du nicht.“
Erst Karibik, dann Hartz IV
Mit Ende 20 setzt eine Trendwende in Idils Leben ein. „Ich dachte, jetzt werde ich alt. Jetzt sollte ich etwas machen, womit ich mehr Geld verdiene.“ Sie holt ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach. „In dieser Zeit habe ich mich nochmal anders kennengelernt. Es hat mir Spaß gemacht, in einer Klasse zu sitzen und Dinge zu lernen.“
Dann trifft Idil ihre große Liebe. Sie heiratet und geht mit ihrem Mann in dessen Heimat Antigua, eine karibische Insel. Die Ehe hält nur ein dreiviertel Jahr. Nach einem kurzen Exkurs nach England kehrt Idil alleine zurück nach Berlin.
„Ich musste mich erstmal bei Hartz IV anmelden. Dann wurde ich in Maßnahmen gesteckt.“ In dieser Zeit arbeitet Idil auch als Nachhilfelehrerin an Schulen, unter anderem an der aus den Medien bekannten „Problemschule“ Rütli. Eine wichtige Erfahrung für sie, in der sie viel über das deutsche Bildungssystem, den nicht einfachen Lehrer-Beruf und die schwierigen Start-Bedingungen vieler Kinder aus prekären Verhältnissen mit und ohne Migrationshintergrund lernt.
Ausschlaggebend für den Start ihrer Karriere als Comedy-Frau und Kabarettistin ist schließlich Idils Mutter. Sie fragt ihre Tochter, was mit ihr los sei, warum sie ihr Leben nicht in den Griff bekomme, und lässt Idils Ausreden nicht gelten („Das ist alles Rassismus“). Als Idil einmal aus Spaß „im Kanacken-Sprech“ (O-Ton Idil) drauflos quatscht, findet ihre Mutter das so lustig, dass sie sie drängt ein Video aufzunehmen und es bei Youtube einzustellen.
„Ich dachte das wird nichts. Das dritte Video ist dann durch die Decke gegangen. Es hatte nach nur drei Monaten 1,3 Millionen Abrufe.“
Idil bekommt immer mehr Interviewanfragen, Aufträge und beginnt, sich auch live auf der Bühne auszuprobieren: „Am Anfang war ich grottenschlecht, aber mit der Übung wurde es immer besser.“
„Ich bin Jilet unendlich dankbar“
Die von Idil geschaffene Figur Jilet Ayse trifft bei den Menschen einen Nerv: „Jilet ist ein Integrations-Albtraum, aber nach einer dreiviertel Stunde liebst du sie.“ Obwohl es von da an „wie geschmiert“ läuft, setzt Idil sich selbst unter einen starken Leistungsdruck, zweifelt viel an sich und geht nach Auftritten oft hart mit sich ins Gericht.
„Ich war wahnsinnig unsicher und habe sehr viel mit meinem Selbstwert zu kämpfen gehabt aufgrund dieser Zeit in Armut, und weil ich es so lange nicht auf die Reihe gekriegt habe, mich glücklich zu machen in meinem Leben.“
Es braucht es noch mehrere Jahre, bis Idil ihrem Erfolg traut und sich entspannen kann: „Da begann es wirklich Spaß zu machen.“ Heute ist Idil ihrer Figur Jilet dankbar, denn: „Sie hat eines, was ich als Idil nicht so gut konnte. Jilet liebt sich einhundert Prozent. Sie nimmt sich an und feiert sich, so wie sie ist.“
Und nachdenklich reflektiert Idil, was ihr erst nach sieben Jahren in der Rolle von Jilet bewusst geworden sei:
„Ich habe die Ablehnung meiner selbst über Jilet auf die Bühne gebracht und damit geheilt. Jilet hat mir gezeigt, wie ich mich in dieser Ablehnung lieben, mich selbst trotz dieser Ablehnung annehmen kann.“
Weitere Themen: Scham und Misserfolg, Quantenphysik, Umgang mit Hass-Kommentaren, Buch-Projekt, und warum wir ein Anti-Rassismus-Gesetz brauchen.
Text: Simone Ahrberg-Joung
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Kommentare von Simone Ahrberg-Joung