Artikel verfasst von Frank Joung
Diese Episode ist Teil der Serie „Sport-Edition“

Shugaa Nashwan wurde 1997 im Jemen geboren. Mit Frank spricht der Judoka und Psychologiestudent über angebliche Superkräfte, seine anfängliche Verweigerung für den Blindenstock – und warum ihn die Flucht seiner Schwester an seinem Sport zweifeln ließ.

Shugaas Eltern kommen aus dem Jemen. Er ist der ältestes Sohn von insgesamt neun Geschwistern. Bereits früh erkennt die Familie, dass Shugaa und eine seiner älteren Schwestern dieselbe Augenkrankheit haben. Die beiden können Dinge nur schemenhaft erkennen. „Per bürokratischer Definition bin ich vollblind“, sagt Shugaa, der früher noch besser sehen konnte.

Plötzlich alleine in Deutschland

Um den beiden eine bessere medizinische Versorgung zu gewährleisten, reisen vier Geschwister mit dem Vater und der deutschen Stiefmutter nach Deutschland. Doch über die Zeit stellt sich heraus, dass es seinen Bruder und seine Schwestern wieder in den Jemen zurückzieht. Shugaa jedoch gefällt es in Wiesbaden. Er bleibt. „Kurzum: Plötzlich war ich alleine.“

Shugaa nimmt seine Integration nach eigener Aussage sehr ernst. Für ihn war es ein Ansporn, anerkannt zu sein. „Ich wollte andere mit meinem Deutsch imponieren“, sagt der heute 22-Jährige. Als Jugendlicher ist er ein guter Schüler, engagiert sich im Jugendparlament – und treibt viel Sport: „Ich bin geritten, geskatet, Ski gefahren – alles, was möglich war. Ich wollte nicht, dass man mir meine Behinderung als Nachteil auslegt.“

Heute weiß er, dass seine Integrations-Bemühungen auch zum Teil aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus kamen:

„Ich musste mich hervortun, weil das, was ich war, nicht ausgereicht hat.“

Er verweigert anfangs den Blindenstock, der für ihn wie ein „Brandmarkung“ ist. Nach und nach merkt er aber, dass genau das Gegenteil der Fall ist. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass der Stock meine absolute Selbständigkleit darstellt. Dass ich mich frei im Raum bewegen kann. Und irgendwann habe ich ihn als Brücke zu den Menschen verstanden. Wenn ich gut mit meiner Behinderung umgehen kann, dann können es auch andere.“

Familie kommt nach Deutschland

Was ihm dabei geholfen hat, mehr zu sich und damit auch zu seiner Blindheit zu stehen, ist der Sport. Da läuft es gut für ihn. Der Judoka steht derzeit im Aufgebot der deutschen Nationalmannschaft – mit guten Chancen auf eine Paralympics-Teilnahme in Tokio in diesem Jahr. Rückendeckung erhält er von seiner Familie, die mittlerweile zum Großteil in Deutschland lebt. Nachdem 2015 im Jemen der Krieg ausbrach, konnte sie sich nach Deutschland retten.

Es sei aber nicht immer einfach, den sechs Geschwistern (zwei weitere leben noch außerhalb von Europa) und der Mutter im Alltag unter die Arme zu greifen. Shugaa lebt in Hannover, die Familie in Wiesbaden. Dazu kommt, dass die Bedürfnisse und Herausforderungen der sechs Geschwister und seiner leiblichen Mutter – die Eltern sind wieder zusammen gekommen – sehr unterschiedlich sind.

Judo-WM und Flucht der Schwester

Was ihm schwer zu schaffen gemacht hat, war die Flucht seiner älteren und ebenfalls blinden Schwester. Sie hat mit ihrer Familie die Ausreise vom Jemen nach Ägypten gewagt. Während Shugaa bei der Judo-WM in Portugal sportliche Wettkämpfe bestreitet, flieht die Schwester vor dem Krieg in ihrer Heimat.

„Das kommt dir dann so sinnlos vor. Während ich für Deutschland kämpfe, finden woanders ganz andere Kämpfe statt.“ Shugaa will mehr für seine Schwester da sein, aber er kann nichts machen. „Ich habe mich total ohnmächtig gefühlt.“

Shugaa hadert mit dem Leistungssport, überlegt, ob er sich mehr politisch und aktivistisch engagieren sollte, doch ausgerechnet seine Schwester, die mittlerweile in Ägypten lebt, sagt ihm: „Du bewirkst doch schon so viel.“ Gerade durch den Sport. Im Jemen feierten sie jeden Sieg von ihm, erzählt er.

Shugaas Ziele: Tokio und Jemen

Sein nächstes Ziel lautet „Tokio 2020“. Die Paralympics in Japan – das zu seiner dritten Heimat geworden ist. Auch für die Zeit danach hat Shugaa schon Pläne. Er möchte gerne in den Jemen reisen und Kindern Judo vermitteln.

Weitere Themen: TKKG als Integrationsprogramm, Deutschsein in Japan, Judo-Lieblingstechnik und warum Shugaa sein Arabisch vernachlässigte.

Die Serie “Halbe Katoffl Sport“ ist im vergangenen Jahr in Kooperation mit „Integration durch Sport“ entstanden, anlässlich dessen 30-jährigen Jubiläums. Das Bundesprogramm wird vom Bundesinnenministerium und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert. Wegen des großen und positiven Zuspruchs wird die Podcastreihe in diesem Jahr fortgeführt. Sie erscheint immer Mitte des Monats.