Artikel verfasst von Simone Ahrberg-Joung

Hyunseng You wird 1980 in Seoul, Südkorea geboren. Mit 20 kommt sie nach Deutschland, um Kriminalpsychologin zu werden. Ein Gespräch über die Suche nach dem eigenen Ich, warum sie gerne mit Straftätern arbeitet – und die beste koreanische Einrichtung.

Die Hälfte ihres bisherigen Lebens hat Hyunseng mittlerweile in Deutschland verbracht. Aufgewachsen ist die 40-Jährige mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Seoul. Sie besucht ein Elitegymnasium für Mädchen, lernt jeden Tag von früh am Morgen bis um ein Uhr nachts. Hyunseng fühlt sich fremdbestimmt und stellt die Regeln und Prinzipien der stark hierarchisierten koreanischen Leistungsgesellschaft, in der kein Raum für Individualität vorgesehen ist, zunehmend in Frage.

„Vor 20 Jahren brauchtest du in Korea eine extra Daseinsberechtigung, wenn Du irgendwie anders warst. Du musstest Dich ständig beweisen.“

Durch einen Studienaufenthalt in Oxford lernt Hyunseng eine andere Welt kennen. Sie ist fasziniert von den Freiheiten, die sich jungen Menschen in England im Vergleich zu Südkorea bieten. Sie interessiert sich für Schopenhauer und Nietzsche: „Da habe ich angefangen, Fragen zu stellen und wach zu werden.“ Auch nach ihrer Rückkehr nach Korea taucht sie tiefer in diese Welt ein, liest viel und ist inspiriert vom europäischen Arthouse-Kino.

Berufswunsch Kriminalpsychologin

Hyunseng lebt in einem permanenten inneren Zwiespalt, versucht aber, den Anforderungen der Schule weiterhin gerecht zu werden. „Ich konnte nicht komplett loslassen. Ich liebte ja meine Eltern und war die Elite-Rolle gewöhnt.“

Bereits mit 14 Jahren wusste Hyunseng, dass sie Kriminalpsychologin werden will. Mit 16 Jahren stand für sie fest, dass sie in Europa leben möchte. Als sie das ihrer Mutter mitteilte, verstand diese es zunächst nicht; sie spürte aber, wie ernst es Hyunseng war.

„Für sie war ich eine komische, sture Tochter. Ich war ganz anders als meine Schwester. Mutigerweise hat meine Mutter mich unterstützt. (…) Ich hatte das Glück, dass meine Eltern sehr tolerant waren.“

„Ich war dankbar“

Hyunseng bereitet ihren Plan akribisch und mit großer Entschlossenheit vor, informiert sich früh über die besten Studienmöglichkeiten. Sie absolviert zunächst das Abitur, das im koreanischen Bildungssystem die größte Prüfung überhaupt ist.

Der Druck ist enorm, sodass Suizide unter Schülern keine Seltenheit sind. Hyunseng studiert ein Jahr Deutsch als Fremdsprache an einer Seouler Universität und kommt im Februar 2000 nach Deutschland. Und während ihre Mutter noch am Flughafen hofft, ihr Kind würde umkehren, richtet die Tochter keinen Blick zurück. „Ich wollte beweisen: Wenn ich das mache, was ich will, dann kann ich richtig gut sein.“

Hyunseng nimmt sich viel vor; studiert in Bonn parallel Kriminologie, Strafrecht und Psychologie. „Ich war dankbar, dass ich machen durfte, was ich wollte. Ich hatte nie das Gefühl, es wird mir zu viel.“ Und trotz des hohen Pensums kostet sie das Leben und ihre Freiheit voll aus: hat Freundschaften, unternimmt Reisen, jobbt und feiert Partys.

Verstehen als Lebensthema

2011 zieht Hyunseng für ihre psychotherapeutische Ausbildung nach Berlin; hier erlangt sie auch ihre Approbation. Heute arbeitet sie als Psychotherapeutin und erstellt forensische Gutachten.

Die Frage, warum sie schon in so jungen Jahren der Wunsch entwickelte, mit Straftätern zu arbeiten, hat sie selbst schon viel reflektiert: „Ich bin sehr behütet aufgewachsen“. Nie habe sie von Mutter oder Vater ein lautes Wort gehört, Wut oder Aggression erlebt.

„Ich wollte das verstehen, was ich selbst nicht erlebt habe. Verstehen ist für mich ein Lebensthema.“

Weitere Themen: praktische koreanische Erfindungen, Aussöhnung mit Korea und wie Deutschland Hyunseng verändert hat.

Von Simone Ahrberg-Joung

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