Artikel verfasst von Frank Joung

Nadire Biskin ist Lehrerin und Autorin aus Berlin. Die 35-Jährige spricht mit Frank über ihr traumatisches Referendariat, ihren ersten Roman und darüber, was eine Deutschland-Toilette ist. Über die türkische Obst-Dreifaltigkeit, ihre Lernreise zwischen Gymnasium und Hauptschule – und was ihr Lieblingsgefühl ist.

Nadire wird im Mai 1987 in Berlin-Wedding geboren, wo sie auch aufwächst. „Wedding ist mein Dorf“, sagt sie. Alle kennen sich in ihrem Kiez – ein ambivalentes Gefühl. Einerseits vertraut, andererseits einengend. Vor dem Café stehen Männer, die sie kennen, auf dem Spielplatz sitzen Frauen, die sie beobachten. „Manchmal war das wie ein Slalomlauf.“

Ihre Eltern – der Vater kam mit neun, die Mutter erst mit Mitte 20 nach Deutschland – sind arbeitslos. Mit ihrem jüngerem Bruder musste sie alles teilen: das Fahrrad, das Zimmer, sogar den Döner.

Schwänzen gegen Mobbing

Während sie gerne auf die Grundschule geht, ist das Gymnasium eine härtere Nummer: „Dort wurde ich gemobbt.“ Ihr Gegenmittel: „Ich habe geschwänzt. Petzen wollte ich nicht.“ Aber sie lässt sie auch nicht unterbuttern. Nadire beschreibt sich als verantwortungsbewusst, fürsorglich – sie hat auch eine starke, aggressive Seite. Im Teenageralter aber sind ihre Leistungen schwankend.

Sie wechselt vom Gymnasium auf die Realschule und dann weiter auf die Hauptschule. Macht da ihren Abschluss und geht wieder aufs Gymnasium. Nach einer Banklehre und einem Master-Abschluss (Ethik, Spanisch und Philosophie) macht sie ihr Referandariat. Die Zeit beschreibt sie so: „Stell dir vor, du bist Chirurg und brauchst drei Hände. Du hast aber nur zwei.“

„Ich war wie Tinnitus“

Während der Lehrer*innenausbildung fängt sie schon an, ihren Roman zu schreiben – ihre Hauptperson ist eine deutsch-türkische Referendarin aus dem Wedding. „Autofiktional nennt man das!“ Als Lehrerin ist ihr Verhältnis zu ihrem Job, den Kolleg*innen und der Einrichtung Schule bzw. Schulsystem auch gespalten:

„Ich war wie Tinitus. Ich war in dem Raum und ich war immer ‚unangenehm‘. Und dann wurde man irgendwann müde. Ich will ja auch geliebt werden.“

Im Schreiben des Buches hat sie ihre Erfahrungen verarbeitet. „Niemand hat daran geglaubt“, sagt sie. „Alle haben gesagt: Das landet in der Schublade.“ Aber seit Februar 2022 ist es da. „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ heißt es. „Das kann mir jetzt auch niemand wegnehmen. Da ist jetzt da. In Print!“

Weitere Themen: Sprachen der Liebe, Hybrides Wesen, Willkommensklasse, Obst-Dreifaltigkeit, Wikipedia-Artikel, Kirchenaustritt und Schogetten