Artikel verfasst von Frank Joung
Diese Episode ist Teil der Serie „Kein Schlussstrich“

Tuncay Acars Leben ist von einem Hin und Her geprägt. Der gebürtige Münchener mit türkischen Eltern erzählt im Podcast, wie er sich zurechtfand zwischen Holzhaus am Meer und Vorstadt-Legehennen-Wohnhaus. Warum er erst Graffitipionier war und später mit Schnauzbart und Vokuhila ins Fußballstadion pilgerte und wie er es schafft, mit Wut im Bauch Kultur zu machen und Events zu planen.

„Ich habe Schwierigkeiten, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Ich muss immer mehrere Sachen machen“, sagt Tuncay. Zum Glück muss man wohl sagen. Denn der 53-Jährige gilt in München und Istanbul als Kultur-Tausendsassa: Gastronom, Autor, Publizist, Eventmanager, Projektleiter, DJ, Musiker, Graffitipionier, Brückenbauer – er ist alles mal gewesen, vieles zugleich, immer dabei und immer aktiv.

Traumatischer Umzug

Tuncay wird im August 1968 in München geboren. Seine Eltern arbeiten bei BMW. Er lebt aber die ersten vier Jahre seines Lebens bei seinen Großeltern in der Türkei, am Schwarzen Meer – Holzhaus, kein fließendes Wasser, frischer Fisch. „Es war paradiesisch“, sagt Tuncay.

Dann jedoch holen ihn seine Eltern nach Deutschland, ins städtische Leben. Für Tuncay ist das traumatisch. Vielleicht war, so mutmaßt er, die Zeit damals in der Türkei die schönste Zeit seines Lebens.

„Bei meinen Großeltern habe ich wahnsinnig viel Anerkennung bekommen, nur dafür, dass ich da bin. Das hatte ich hier gar nicht mehr. Wir waren ständig beschäftigt, unsere Existenz zu wahren und zu legitimieren. Das hat in der Pubertät zu viel Wut geführt.“

„Hip Hop war eine Befreiung“

Schule war Katastrophe. Tuncay hat viele Fragezeichen im Kopf. „Ich beschäftige mich zum Teil immer noch mit diesen Fragen.“ Dann lernt er Hip Hop kennen. Die (noch sehr junge) Jugendbewegung aus den USA war eine Befreiung für ihn. Tuncay ist fanatischer Breakdancer und mischt dann in den Anfängen der europäischen Graffitiszene mit. Sein Tag ist „Blash“. Die Münchener gehören zu den ersten, die Züge besprayen.

„Wir haben um unsere Existenz gemalt. Wenn du keine Anerkennung erfährst in der Gesellschaft, nicht weißt, wo du stehst und woran du dich halten kannst, dann ist Graffiti alles – für uns war es alles.“

Zurück in der Türkei

Doch mit der Bewegung kommt auch der (legale) Stress. Als er mehrfach Ärger mit der Polizei bekommt, schicken ihn seine Eltern mit 16 in die Türkei. „Ich wurde rausgerissen aus der hedonistischen Hip-Hop-Welt und mit reellen existenziellen Fragen konfrontiert.“ Tuncays Leben erfährt wieder eine krasse Umstellung. Er beschäftigt sich mit dem Islam, mit dem Patriarchat, seiner generellen Stellung in der Gesellschaft und arbeitet auf der Haselnussplantage seiner Familie.

Nach dem Schulabschluss beginnt er ein Archäologiestudium in Istanbul, wo er nach eigener Aussage, eine zusätzliche Identität gewinnt und eine neue Persönlichkeit entwickelt. Sein intellektueller Geist wird noch mehr gefordert, er trifft auf „intensives Leben, Hammergeschichten und Unikate“ in der Stadt. Noch heute fühlt er sich in Istanbul heimisch. „Ich bin Istanbuler“, sagt er.

„Ich habe mich mit meiner Wut angefreundet“

Doch es gibt auch Schattenseiten: Meinungs- und Reisefreiheit sind in Deutschland mehr gegeben. Es zieht in zurück. Als Austauschstudent kehrt er in seine Geburtsstadt München zurück. Er lernt die Sprache neu. In einem Unikurs hat er eine Erleuchtungserfahrung: „Deutsch ist eine schöne Sprache!“ Sein Interesse sich auszudrücken wächst. „Artikulieren wurde meine Leidenschaft.“

Bis heute pendelt Tuncay regelmäßig zwischen München und Istanbul. Er sieht die Vorzüge in beiden Kulturen und Städten, erfährt aber auch deren Grenzen. „Ich habe gedacht, jetzt steht mir die Welt offen, aber so war es nicht. Akzeptiert war ich noch lange nicht.“ Selbst (oder gerade?) in der Kulturszene stößt er immer noch auf viel Schubladendenken, Skepsis und Vorbehalte.

Es sei wahnsinnig schwer dagegen anzukämpfen. Er ist immer noch viel wütend und gilt in manchen Kreisen als „schwierig“. Dessen ist sich Tuncay bewusst: „Aber ich habe mich mit meiner Wut angefreundet und nutze sie als Werkzeug. Ich bin nicht leicht bekömmlich. Ich drücke, ich verschaffe mir Platz und sorge dafür, dass man den Mund hält und mir mal zuhört, wenn ich was sage und nicht gleich nach einem Halbsatz sagt: Ja, aber …!“.

Tuncays Blog: http://triptown.de/

Diese Folge ist entstanden in Kooperation mit „Kein Schlussstrich! Ein bundesweites Theaterprojekt zum NSU. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Programms „Demokratie leben!.