Tuğba Tekkal wurde 1985 in Hannover geboren. Die Ex-Profifußballerin hat kurdisch-jesidische Wurzeln – und zehn Geschwister. Sie spricht mit Frank über das Leben in der Großfamilie, darüber, was Fußball mit Freiheit zu tun hat und über die Freude, andere von den eigenen Erfahrungen profitieren zu lassen.
Tuğba hat sechs Schwestern und vier Brüder. Gemeinsam mit ihren Eltern und der Großmutter lebt die Familie zunächst in einer Vier-Zimmer-Wohnung im mutikulturellen Hannoveraner Stadtteil Linden. Die Eltern waren Ende der 1960er Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen.
Der Vater engagiert sich für die Anerkennung der Jesiden als politisch Verfolgte in Deutschland. Er ist Fliesenleger und Lagerarbeiter. Die Mutter bringt innerhalb von 20 Jahren elf Kinder zur Welt, von denen bis auf die ersten beiden alle hier geboren sind.
Windeln wechseln mit 6
Die Kinder lernen früh, Rücksicht auf andere zu nehmen, aber auch Verantwortung füreinander: „Wenn meine Eltern nicht da waren, haben sich die älteren um die jüngeren Geschwister gekümmert. Ich habe mit sechs Jahren meinem drei Jahre jüngeren Bruder die Windeln gewechselt.“
Es gibt auch Unterstützung von Menschen außerhalb der Familie, z.B. von Lehrern und Nachbarn. „Wir wurden schon von der Mehrheitsgesellschaft aufgefangen. Ohne diese Hilfe hätten meine Eltern das gar nicht geschafft.“
Tuğba: Ich war das Sorgenkind
Schwierig ist für Tuğba der Umzug der Familie aus einer ethnisch durchmischten Gegend in Hannover in ein Haus in einer dörflicheren Umgebung, in der die Familie zwar mehr Platz hat, aber von nun an die einzige Migrantenfamilie ist.
Kommentare über die zahlreichen Kinder kommen häufig vor. Unvergessen ist für Tuğba eine Szene aus ihrer nicht sehr glücklichen Schulzeit. Die Lehrerin erteilt den Schülern die Hausaufgabe, einen Familienstammbaum zu zeichnen – und stellt Tugba davon frei mit den Worten: „Du musst das nicht machen.“ Dass sie verletzt ist, behält Tugba für sich. „Ich hatte mich mega darauf gefreut und hätte es gerne gemacht.“
In dieser Zeit hat Tuğba kaum Freunde und gilt bei ihren Eltern als Sorgenkind. Sie baut schulisch ab und versucht, dem Klischee gerecht zu werden. „Damit habe ich mir aber einfach nur selbst geschadet.“
„Viele Jahre war ich traurig und introvertiert, obwohl ich aus so einer großen Familie komme. Ich habe vieles mit mir ausgemacht und mit niemandem darüber gesprochen, was mich in der Schule belastete.“
Fußballschuhe als Tor zur Freiheit
Ein Wendepunkt in Tuğbas Leben ist, als sie mit 16 Jahren zum Fußball kommt. Sie kickt zunächst mit ihrem Bruder und dessen Kumpels auf der Straße. Die Jungen sind beeindruckt von Tuğbas Talent und ihr Bruder besteht darauf, dass sie ihre Begabung nicht vergeuden dürfe und im Verein spielen müsse.
Mit Unterstützung der Geschwister schafft Tuğba es, das Einverständnis ihrer Eltern zu gewinnen – keine Selbstverständlichkeit und kein leichter Weg, denn diese sind zunächst alles andere als begeistert davon, ihre Tochter in einem „Männersport“ zu sehen.
Tuğba erlebt beim Fußball ihren großen Durchbruch und blüht voll auf:
„Der Fußballplatz war der erste Ort, an dem ich keine Diskriminierungserfahrungen gemacht habe. Dort bin ich nur nach Leistung beurteilt worden. Da ich gut Fußball gespielt habe, habe ich mir ganz viel Anerkennung geholt – was mir die Jahre davor gefehlt hat. Vorher hatte ich keine Perspektiven. Der Fußball kam genau zum richtigen Zeitpunkt.“
Tuğba macht innerhalb von wenigen Jahren eine rasante Entwicklung durch: „Das kleine schüchterne Mädchen Tuğba war auf einmal die, die immer ganz vorne mit dabei war und die Reden in der Mannschaft geschwungen hat. Ich fand das super, was das mit mir gemacht hat. Ich hatte endlich etwas gefunden, was ich total gerne mache und wo ich mich auspowere.“
„Trainieren wie Profis – verdienen wie Amateure“
Tuğba wechselt von Hannover nach Hamburg und von Hamburg nach Köln. Sie trainiert und spielt auf Profiniveau, auch wenn sich das in der Bezahlung der Spielerinnen anders als im Männer-Fußball nicht entsprechend niederschlägt. Sie schafft es bis in die Bundesliga und geht ganz im Fußball auf.
Trotz dieser steilen Karriere ist Tuğbas Weg nicht immer einfach. Vor allem am Anfang fällt es ihr schwer, weiter weg von der Familie zu leben. Die Eltern sagen ihr bei jedem Telefonat, dass sie nach Hause kommen soll. In ihrer ersten Zeit in Hamburg weint sie viel. „Ich kam mit dieser Stille nicht klar.“
„Wenn wir es nicht machen – wer dann?“
Tuğba hat ihre Profikarriere beendet und arbeitet an politischen und sozialen Projekten, in die viel von ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihren prägenden Erfahrungen einfließt – zum Teil gemeinsam mit ihren Schwestern.
Mit dem Verein „Háwar.help“ nehmen sie sich den Anliegen von jesidischen Frauen und Kindern an, die in IS-Gefangenschaft waren, und bieten ihnen Unterstützung. Tuğbas ganz persönliches Projekt ist „Scoring Girls“, in dem es um die Förderung von Mädchen zwischen 8 und 18 Jahren verschiedener sozialer und ethnischer Herkunft geht.
Tuğba ist es wichtig, die Chancen, die sie selbst bekommen hat, an andere weiterzugeben und anderen ein Vorbild zu sein. Sie erinnert sich: „Wenn wir mit Geschichten von Diskriminierung nach Hause kamen, sagte meine Mutter immer: Wenn 100 Prozent nicht reichen, dann gib 200!“ Da Selbstmitleid nicht helfe und Reden alleine auch nicht, ist Tuğbas Devise, ins Handeln zu kommen: „Wenn wir es nicht machen – wer dann?“
Weitere Themen: „German Dream“, Familientreffen und jesidische Weihnachten
Text: Simone Ahrberg-Joung
Tuğba auf Instagram: @tugbatekkal
Die Serie “Halbe Katoffl Sport” ist entstanden in Kooperation mit „Integration durch Sport“, das dieses Jahr sein 30-jähriges Jubiläum feiert. Das Bundesprogramm wird vom Bundesinnenministerium und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert.
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Kommentare von Simone Ahrberg-Joung