Artikel verfasst von Simone Ahrberg-Joung

Edouard Marry wird 1945 in Kairo, Ägypten, als Sohn einer Libanesin und eines Franzosen geboren. Bei Halbe Katoffl spricht der 74-Jährige über das Trauma von Migranten, seinen Kulturschock im Land der Dichter und Denker und warum er in seinem Herkunftsland keine Wurzeln schlagen konnte.

Jugend in Ägypten

Seine Kindheit und Jugend in Ägypten sind Edouard sehr präsent. Seine Familie gehört zur oberen Mittelschicht und lebt in einem bürgerlichen Stadtteil – der heute verslumt ist.

Das Leben in der großen Stadt ist hart: „Chaos ist der Normalzustand. Der Verkehr bricht mehrmals täglich zusammen. Die Luft ist von Abgasen verpestet und manchmal sieht man den Himmel kaum durch die Sand- und Abgasstürme, die über die Stadt wehen.“

Aber er erinnert sich auch an die Sonnenuntergänge und den Sternenhimmel über der Wüste außerhalb von Kairo: „Das war einfach überwältigend.“

Edouard lernt früh, sich auf den Straßen von Kairo zurechtzufinden:

„Es war ein gefährliches, anspruchsvolles Leben. Ich musste mich mit anderen Jungs prügeln und klarkommen. Der typische Geltungsdrang von Jugendlichen war dort unkontrolliert. Es gab keine richtige Polizei. Ich habe gelernt mich durchzuschlagen.“

Edouards Vater ist Koch und arbeitet in der gehobenen Hotellerie und Gastronomie. Er kommt in der Welt herum und nimmt seinen Sohn mit in die Schweiz, wo er ein Jahr lang die Schule besucht. „Die Natur, dieses viele Grün, der Schnee, das Wasser – das war für mich unglaublich. Ich konnte damals nicht begreifen, dass es so viele Bäume geben kann. In Kairo gab es ja kaum einen Baum – und wenn, dann Palmen.“

Zurück in Ägypten besucht Edouard die deutsche Schule und absolviert das deutsche Abitur.

„Deine Zukunft ist nicht hier, sondern in Europa“

Vor dem Hintergrund der Revolution und der politischen Veränderungen in Ägypten bereitet Edouards Vater seinen Sohn schon früh darauf vor, dass er Ägypten verlassen soll. Edouard erklärt: „Die mittlere Oberschicht bestand hauptsächlich aus dagebliebenen Europäern. Fremdlingen, die das Kapital in der Hand hatten und das Land letztlich ausbeuteten. Nach und nach wollten die Ägypter diese Positionen zurück. Es gab einen Exodus dieser ganzen Leute, die vorher sehr gut gelebt hatten, die mussten sehen, dass sie rechtzeitig wegkommen.“ Edouard entstammt diesem Zweig und ist damit einer von ihnen. Er kann in Ägypten nicht wirklich Wurzeln schlagen, obwohl all seine Freunde Ägypter sind. Erst später wird im klar, dass er dort stets den Status des Vorläufigen hatte.

Kulturschock in Deutschland

Als Edouard mit Anfang 20 nach Deutschland, zunächst nach Frankfurt, kommt, trifft ihn der Kulturschock hart. Ganz anders hatte er sich das Leben im „Land der Dichter und Denker“ vorgestellt, das er nicht kannte, auch wenn er die Sprache durch die deutsche Schule in Kairo bestens beherrscht.

Er tut sich schwer mit der rauen Mentalität; mit dem Tonfall, der in seinen orientalischen Ohren ruppig klingt. Eine enttäuschte Liebe, eine berufliche Findungsphase, eine unglückliche Ehe – in seiner ersten Zeit in Deutschland kommt einiges an Schwierigkeiten zusammen.

Als Edouard depressiv wird, hilft ihm eine Psychotherapie, all seine Erlebnisse und Erfahrungen zu reflektieren und zu verarbeiten. Er ist begeistert von deren Wirksamkeit und beschreitet selbst den beruflichen Weg der Ausbildung zum Psychotherapeuten.

Wurzeln tief eingegraben

Nach dem schwierigen Start ist Edouard immer mehr angetan von Deutschland: „Dass du hier überhaupt deine Rechte kriegen kannst. In Ägypten war das unmöglich.“ Er erinnert sich daran, wie sein Vater sich einmal regimekritisch geäußert hatte und daraufhin für eine Woche von der Bildfläche verschwand.

„Wir mussten recherchieren und Leute bezahlen, die herausfanden, dass er im Gefängnis gelandet war. Ihn da rauszuholen war nicht einfach.“ Von der hohen Lebensqualität in Deutschland ist Edouard begeistert: von den vielen Freiheiten, der Rechtssicherheit, der gesundheitlichen Versorgung, der guten Luft und dem guten Essen.

Edouard lernt die deutsche Kultur immer besser kennen. Er entdeckt, wie hilfsbereit die Deutschen sind, und findet sehr gute Freunde. „Ich habe erst hier meine Wurzeln ganz tief eingegraben.“

Die 68er – „Es war eine optimistische Zeit“

Edouards Studienzeit ist getragen von der Aufbruchsstimmung der 1968er. Er erlebt Rudi Dutschke und ist nah dran an der politischen linken Bewegung. „Es war eine sehr optimistische Zeit im Gegensatz zu jetzt, wo alle denken, dass die Welt bald untergeht.“

Als Ägypter wird er von den Deutschen nicht identifiziert. Schmunzelnd erinnert sich Edouard daran, wie er von einem bayerischen Wirt wegen seiner langen Haare als „Haschbruder“ bezeichnet wurde.

Tourist im Herkunftsland

Den Kontakt nach Ägypten zu halten, ist für Edouard in den ersten Jahren eine Herausforderung. Nicht die Ein-, sondern die Ausreise aus dem Land gestaltet sich schwierig. Bei einem vierwöchigen Besuch bei seinem kranken Vater ist Edouard ganze drei Wochen damit beschäftigt, das erforderliche Ausreisevisum zu erlangen. „Die haben mich dafür von Pontius zu Pilatus geschickt.“

Später gibt Edouard den ägyptischen Pass ab und nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an. Seitdem reist er problemlos etwa alle zwei Jahre nach Ägypten, denn von Zeit zu Zeit „wollen alle fünf Sinne wieder das Alte spüren.“ Persönliche Bande gibt es allerdings schon lange nicht mehr, sodass Edouard wie ein Tourist in das Land seiner Kindheit und Jugend reist.

Seitdem er in den Ruhestand gegangen ist, arbeitet Edouard therapeutisch in eigener Praxis. 36 Jahre lang hat er die Erziehungsberatung der Caritas geleitet. Zu seinen Klienten zählen heute viele binationale Paare, die er in Partnerschaftskrisen und -konflikten begleitet.

Mit Bedauern stellt Edouard fest, dass es in Deutschland viel zu wenig arabische und türkische Psychotherapeuten gibt. „Da besteht ein riesiger Bedarf.“ So ist für Edouard, selber Katholik, insbesondere die Ausbildung von Muslimen für die Telefonseelsorge eine Herzensangelegenheit.

„Ihr seid Deutsche“

Und was hat aus Edouards Sicht seinen Lebensweg in Deutschland am meisten geebnet? „Der Vorteil, dass ich schon in Ägypten Deutsch gelernt habe, ist unschätzbar hoch. Das war die Erleichterung meines Lebens.“ Von seinen drei Kindern habe er nie etwas Ägyptisches gefordert; nicht einmal die arabische Sprache.

„Ich habe versucht, meine Kinder mit dem Thema Identität zu verschonen, und habe ihnen immer gesagt, dass sie Deutsche sind.“

Weitere Themen: Band ohne Namen, typische Konflikte interkultureller Paare und deutsche Regeltreue.

Edouard Marry http://eheberatung-berlin.com/

Text: Simone Ahrberg-Joung

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